Corona-Selbsthilfe 2023 – mehr

Was ist eigentlich passiert?

In unseren TIN-Zusammenhängen schien es immer Ideale zu geben, die uns alle verbanden – wie Selbstbestimmung, freie informierte Entscheidung und das „Expert_innentum in eigener Sache“ bezüglich der individuellen Gesundheit. Empowerment funktionierte über diese gemeinsamen Ziele und Grundsätze.

Mit den meisten TIN Personen verband uns auch eine kritisch-hinterfragende Haltung gegenüber einem Medizinsystem, welches eben nicht alle Menschen und Körper gleichermaßen im Blick hat und an vielen Stellen eher von finanziellen oder organisatorischen als von gesundheitlichen Überlegungen geleitet wird. Je mehr die eigene Konstitution von den gesetzten Normen abwich, umso notwendiger war es, systemkritische Mediziner_innen und eigene, alternative Wege des Heilens und Gesundbleibens zu finden.

Im Hinblick auf Corona mussten wir plötzlich von Freund_innen und (Mit-)Aktivist_innen hören,

  • dass unser Beharren auf körperlicher Selbstbestimmung und freier informierter Entscheidung unsolidarisch sei,
  • dass ein und dieselbe medizinische Behandlung für alle Menschen und Körper gleichermaßen gut, notwendig und sicher sei,
  • dass Zweifel an der Sicherheit und an den Heilsversprechen bestimmter medizinischer Präparate oder Behandlungen in die Richtung von Verschwörungstheorien gingen,
  • dass das mühsam erarbeite Wissen über unsere persönlichen Gesundheitsbedürfnisse, genau wie alle notgedrungen abseits des Mainstreams gesammelten medizinischen Informationen, die vom Offiziellen abwichen, „Schwurbelei“ seien.

Dass sich unsere Zweifel oder Schwurbeleien nun nach und nach als ziemlich richtig erweisen, hilft leider überhaupt nicht dabei, das Geschehene besser zu verdauen.

In unseren nicht-normativen Kreisen schien das Abweichen an sich plötzlich als Problem wahrgenommen zu werden, zudem das Abweichen von einem Mainstream, den wir in unserer Geschichte als TIN Personen doch als oft problematisch erfuhren. Gleichzeitig schien auf einmal ein Umgangston „normal“, „angemessen“, akzeptabel und – in unserer Wahrnehmung – teils sogar erwünscht, zu dem es gehörte, über Menschen zu lästern, die irgendetwas bezüglich Corona anders sahen oder handhabten, über sie pauschal zu urteilen, ihnen „Rechts-Sein“, Uninformiertheit, Gefährdung usw. zuzuschreiben anstatt sie nach ihren Beweggründen zu fragen.

Es fällt uns schwer, nach diesen Erfahrungen zu dem Gefühl zurückzukehren, wir könnten auf bestimmte gemeinsame Werte und Haltungen vertrauen. Zum Beispiel nicht zu verurteilen, nicht zu beschimpfen, nicht auszugrenzen.

Und, natürlich:

Nicht ALLE unsere maßnahmen-konformen Freund_innen haben ALLES Aufgezählte gesagt bzw. getan.

Meistens sprachen sie auch nicht direkt zu einem_r von uns, sondern eher nebenher, als wären wir uns darin selbstverständlich alle einig: so redet, urteilt, lästert man über Menschen, die anderer Meinung sind. Oder sie haben abwertend über nicht anwesende Dritte gesprochen, weil sie nicht wussten, dass sie damit auch über uns sprachen.

Manchmal bestand unser Problem auch einfach darin, dass diese Worte, Verurteilungen, Pauschalisierungen usw. überhaupt – Personen-unbezogen – und immer wieder, ohne Unterlass geäußert und auf allen Ebenen verbreitet wurden … und unsere Freund_innen konsequent nichts dazu sagten. Als hätten sie es nicht gehört, als wäre ihnen Tonfall und Umgangsart miteinander nicht aufgefallen, als würde ihnen die ganze Pauschalisierung, Vereinfachung, Verachtung und Ausgrenzung als völlig normal oder eben, im Zusammenhang mit Corona, als unbedingt angemessen vorkommen.

Masken auf – Nazis raus“* [* häufig gesehener Transpi- und Wandspruch]

Die große Mehrheit der Menschen, auch unter TIN, denen es selbst leichtfiel, Masken zu tragen, haben daraus abgeleitet, dass es allen anderen genau so leicht fallen müsse und dass deren „Verweigerung“ deshalb nichts als Rücksichtslosigkeit und Egoismus bedeuten könne.

Sprüche wie „hab dich nicht so“, „es ist doch nur ganz kurz“ erinnerten Einige von uns böse an Beschwichtigungen aus anderen Zusammenhängen: Missbrauch, Übergriffigkeit, auch in medizinischer Hinsicht. Aber wie bei Vielem rund um das Thema Corona war unser Unbehagen nicht von Belang. Im Gegenteil: Es wurde uns als grundloser Trotz ausgelegt, als Rechtsoffenheit interpretiert, als Dummheit eines zu belehrenden Kleinkinds behandelt und noch einiges mehr. Wir sollten einfach „funktionieren“.

Für fast Alle aus unserer Gruppe war die Maskenpflicht einer der größten Stressfaktoren während der letzten drei Jahre. Vor allem, weil es unserem vertrauten Umfeld nicht vermittelbar schien, dass darin überhaupt ein ernstzunehmendes Problem liegen könnte. Für Maskenpflicht-Befürworter_innen schien es unwichtig zu sein, dass damit alle, für die das Maskentragen doch stärker beeinträchtigend bis unerträglich war, über lange Zeit von wichtigen Dingen und „Empowerment“ ausgeschlossen waren – obwohl sie sich sonst immer klar gegen Ausschlüsse aufgrund besonderer körperlicher oder psychischer Bedürfnisse positioniert hatten.

Nicht ernst genommen zu werden ist ein Gefühl, das wir bis dahin aus unseren TIN-Zusammenhängen am wenigsten kannten. Haltungen wie „du bildest dir das nur ein“, „das bisschen Stoff – das ist doch nichts!“ und „ich mache es ja auch mit, also kannst und musst du das auch“ hätten bei uns früher kaum als angemessen gegolten. Und gelten in anderen Kontexten weiterhin als unakzeptabel; zurecht – nur nicht bei diesem Thema.

Verstummen

Wegen der Maskenpflicht war es beispielsweise vielen von uns über fast drei Jahre hinweg nicht möglich, an Demos teilzunehmen (sofern mensch diese nicht absichtlich in Misskredit bringen wollte). Wer sich deshalb, oder schlicht aufgrund der geänderten Gesetzeslage, in seinen_ihren Grundrechten eingeschränkt fühlte, dem_der wäre sehr schnell eine Nähe zum „Querdenken“, zur AfD, usw. zugeschrieben worden – wenn sie_er es gesagt hätte.

Die meisten von uns haben bald kaum mehr etwas laut gesagt, was als abweichend wahrgenommen worden wäre. Die Sorge war zu groß, die für uns so wertvollen Gruppen, Zusammenhänge und Räume zu verlieren, auch wenn sich die definitiv nicht mehr wie safe spaces anfühlten. Andere sagten doch etwas – und wurden aus Gruppen hinauskomplimentiert, mit „Warnmeldungen“ als vermeintlicher Nazi versehen, diskreditiert.

Es ist unglaublich schnell passiert, dass jede Art von Maßnahmen-Kritik in einen Topf geworfen wurde mit Uninformiertheit, fehlender Solidarität, Egoismus, Wissenschaftsferne und der Gefährdung von Vulnerablen und scheinbar nichts mehr differenziert betrachtet oder auf unterschiedliche Arten gehandhabt werden durfte. Weil unsere TIN-Zusammenhänge bis dahin aber genau die Orte gewesen waren, an denen wir uns über (von der Norm abweichende) Gesundheitsfragen und über die Probleme mit einem normativen Medizinsystem offen hatten austauschen können, fehlte uns plötzlich etwas Wesentliches.

Dürfen wir noch anders denken? Genau das wurde uns abgesprochen. Auch beim Schreiben dieses Textes zögern wir mitunter: Ist eine bestimmte Formulierung, oder ein Aspekt, nicht zu sehr „Reizwort“? Können wir das sagen, ohne gleich wieder als Was-auch-immer abgestempelt zu werden? Oder hört uns doch jemand zu, will auch unsere Wahrnehmung wissen, wie es uns geht und ging?

Wohin verschwand unsere vormals Differenzen so wertschätzende Gemeinschaft? Plötzlich waren wir der „Feind“ – nicht der Mainstream, die cis-Normativität, sondern wir. Das schmerzt uns immer noch. Wie ist das so schnell passiert, und wie kommen wir da raus? Beidseits, allseits. Dazu müssten wir reden. Das versuchen wir auch, doch unsere aktuelle Erfahrung ist: Das Thema wird nun gänzlich vermieden, es gilt als „abgeschlossen“. Erneut werden wir nicht gehört; es ist nochmals eine Art „hab dich nicht so“, „war doch nicht so schlimm“. Wir hören viele Begründungen, warum es so sein musste und gerechtfertigt war – oder wir hören nichts. Schweigen.

Etwas anderes als das täte uns gut. Austausch, ein Anfang, ehrliche Kommunikation, wieder in Verbindung gehen … Ihr könnt uns gern schreiben (corinna1000@gmx.net), zu unseren Treffen kommen.