Berlin, 27.05.2020
Die kürzlich bekanntgewordene Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 22.04.2020 schränkt die seit Ende 2018 mögliche Änderung des Personenstandes nach § 45b Personenstandsgesetz weiter ein: Einer nicht-binären Person wird verwehrt, über § 45b PStG eine Streichung ihres Personenstandes zu erreichen. Die antragstellende Person, der im Urteil „empfundene Intersexualität“ zugeschrieben wird – ein Begriff, den wir klar ablehnen – verweist der BGH auf ein Verfahren nach dem veralteten Transsexuellengesetz (TSG). Für die Änderung, so der BGH, seien auch weiterhin Zwangsbegutachtungen von zwei „Sachverständigen“ notwendig. Darin, dass das TSG von einem binären Geschlechtsverständnis ausgeht, sieht das BGH auch kein Problem – das Gesetz müsse lediglich neu ausgelegt werden, um auch den Eintrag „divers“ bzw. eine Streichung des Eintrags möglich zu machen.
Hintergrund:
Das Urteil des BGH hebt ein fortschrittlicheres Urteil des OLG Düsseldorf auf. Dieses hatte am 11.07.2019 einer nicht-binären Person Recht gegeben, die schon im Jahr 2016 eine Streichung ihres Geschlechtseintrags beim Standesamt beantragt hatte – also noch vor der Verabschiedung des jetzt gültigen § 45b PStG. Das OLG Düsseldorf nimmt Bezug auf das wegweisende Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2017, welches auch Menschen, die sich außerhalb eines binären Geschlechterverständnisses verorten, Schutz vor Diskriminierung und einen stimmigen Geschlechtseintrag zusichert. In einer verfassungskonformen Auslegung von § 45b PStG beschloss das Gericht, dass die Möglichkeit der Streichung des Geschlechtseintrag auch Personen offenstehen müsse, die sich außerhalb eines binären Geschlechtersystems verorten. Gegen diese Entscheidung legte das zuständige Standesamt Widerspruch beim Bundesgerichtshof ein, der am 22.04.2020 zu dem vorliegenden Beschluss kam (veröffentlicht am 22.05.2020).
Die positiven Entwicklungen wie das oben genannte Urteil des Verfassungsgerichts wurden zum großen Teil von Inter*-Bewegungen erstritten. Diese Kämpfe hatten und haben es zum Ziel, selbstbestimmte, nicht-pathologisierende Änderungen bzw. Berichtigungen des Geschlechtseintrags zu ermöglichen. Wir sehen und schätzen dieses Engagement sehr und schließen uns mit unserer Forderung an: Wir fordern ein Gesetz, das allen Menschen ermöglicht, selbstbestimmt und hürdenlos über ihren Geschlechtseintrag zu entscheiden.Der BGH hält in seinem Urteil nicht nur an einem essentialistischen Verständnis von Geschlecht fest, sondern trägt zu einer weiteren Normalisierung des Begriffs „Variante der Geschlechtsentwicklung“ bei. Dieser Begriff ist nicht nur pathologisierend, sondern schließt auch viele inter*, trans* und nicht-binäre Menschen aus.
Der BGH fordert in seinem Urteil also eine Neuauslegung des TSG und verweigert sich gleichzeitig einer verfassungskonformen Auslegung von § 45b Personenstandsgesetz. Dabei ist das aus den 1980er Jahren stammende TSG schon seit Jahren ein Fall für eine sehr gründliche Reform bzw. Abschaffung, was von wechselnden Bundesregierungen immer wieder verschleppt wurde und wird. Seit dem heftig kritisierten Referent_innenentwurf des Bundesjustizministeriums aus dem Mai 2019[1]heißt es aus Regierungskreisen seitdem nur, der Meinungsbildungsprozess sei noch nicht abgeschlossen.[2]
Der Versuch des BGH, durch fragwürdige sprachliche Neuschöpfungen und essentialistische Argumentationslinien trans*, nicht-binären und inter* Personen, die sich nicht diagnostizieren lassen wollen/können oder eine „falsche“ Diagnose haben, die Nutzung von § 45b PStG zu verweigern, steht im Widerspruch zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 10.10.2017. Nach diesem Urteil bestand die Hoffnung auf einen selbstbestimmten Geschlechtseintrag für alle Personen, und zwar ohne Abhängigkeit von medizinischen Diagnosen oder Zwangsbegutachtungen. Die Minimallösung, das Gesetz zur Änderung der ins Geburtenregister einzutragenden Angaben, das zur Einführung des § 45b PStG führte, war von Anfang an eine Enttäuschung, weil es an der ärztlichen Deutungshoheit über die individuelle Geschlechtsidentität festhält. Das Urteil des BGH schränkt nun den Personenkreis, für den das Gesetz zugänglich ist, noch weiter ein. Wir von TrIQ als langjährige Interessensvertretung von trans* und inter* Personen sehen diesen Beschluss äußerst kritisch. Wir fordern eine gesetzliche Neuregelung, die allen Menschen einen selbstbestimmten Geschlechtseintrag ohne Zwangsbegutachtungen, langwierige Gerichtsverfahren und medizinische Diagnosen ermöglicht.
Weitere Informationen:
BGH-Beschluss:
http://juris.bundesgerichtshof.de/…/rechtsprec…/document.py…
Urteil des OLG Düsseldorf:
https://openjur.de/u/2193311.html
Urteil des Verfassungsgerichts von 2017:
https://www.bundesverfassungsgericht.de/…/rs20171010_1bvr20…
Artikel bei queer.de:
https://www.queer.de/detail.php?article_id=36187
Pressemitteilung BVT*:
https://www.bundesverband-trans.de/…/…/PM-BGH-Urteil-BVT.pdf
Pressemitteilung LSVD:
https://www.lsvd.de/…/2479-Bundesgerichtshof-beschr%C3%A4nk…
Pressemitteilung dgti:
https://www.dgti.org/
Kommentar auf dem Verfassungsblog:
https://verfassungsblog.de/der-biologische-essentialismus…/…
[1] TrIQ Stellungnahme zum Referent_innenentwurf: https://www.transinterqueer.org/…/TrIQ-Stellungnahme-Referen…
[2] Siehe z. B. Antwort auf die Kleine Anfrage von Dr. Jens Brandenburg vom 05.09.2019: https://www.queer.de/docs/anfrage-tsg.pdf